Verkaufen in der VUCA-Welt: diesen Fähler sollten Sie vermeiden

VUCA ist das Schlagwort für eine immer komplexere, unsicherere, mehrdeutigere und sich scheinbar schneller drehende Welt. Auch Unternehmensführung und Verkauf müssen damit klarkommen. Von Epidemien über unterbrochene Lieferketten bis hin zu Digitalisierung und neuen Fertigungstechnologien wie etwa dem 3D-Druck. Es ist höchste Zeit, sich bei der Kundenansprache von den Mustern der gemächlichen Nullerjahre zu verabschieden. Erfolg hat jetzt, wer eingeübte Verkaufsroutinen vergisst und sich und seinen Mitarbeitern freies, situatives Handeln, intuitives Antworten und neue Ideen erlaubt.

Warum Vertriebler keine Standardmethoden anwenden und weniger fragen sollten

Seit den Neunzigern regiert in Verkaufstrainings die Schublade. Je nach Methode und Trainer lassen sich Kunden bestimmten Temperamentfarben oder Motiv-Typen zuordnen. Für jede Gesprächsphase gibt es die richtigen W-Fragen und auf jeden Einwand die abschlussfördernde Entgegnung. Perfekte Anpassung, so die Botschaft, macht den Vertriebserfolg wahrscheinlich. Letztlich ist dies der Versuch, durch das Setzen psychologischer Standards das Vertriebsgeschehen für den einzelnen Verkäufer zu vereinfachen und trainierbar zu machen. Anders gesagt: Man reduzierte das unberechenbare, weil komplexe Lebewesen Mensch auf einen berechenbaren Automaten.

2019 hat sich der Autor und Journalist Wolf Lotter in der Zeitschrift „Brandeins“ mit dem Thema Komplexität und ihrer Reduktion auseinandergesetzt. Als Bild wählt der den Umgang des Försters mit dem Wald. „Wo man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr erkennt, packt man die Kettensäge aus, bis nur noch ein Baum stehen bleibt“, schreibt Lotter. „Dann hat man keinen Wald mehr, dafür ist aber alles ordentlich und übersichtlich.“

Das, so seine Botschaft, stammt aus dem vorletzten Jahrhundert. „Im 19. Jahrhundert waren es Normen, Standards und Regeln, mit denen man versuchte, die Komplexität berechenbarer zu machen. Man kann das als Versuch verstehen, Komplexität so zu reduzieren, bis sich der Durchblick – nach Kettensägenart – von selbst ergibt, und Überraschungen durch Unbekanntes weitgehend ausgeschaltet werden. (…) Das passte sehr gut zur Logik der Maschine.“

Nun ist es kein Zufall, dass heute Produktion und Management mit agilen Methoden Komplexität zu nutzen, statt sie zu eliminieren. Lotter kennt auch den Grund: „Wenn man Komplexität nur reduzierte, dann grub man sich auf Dauer selbst das Wasser ab. Um die Vielfalt optimal zu nutzen, möglichst viele Erkenntnisse zu gewinnen und Fortschritt zu generieren, durfte man sie nicht in Organisationen und Kontroll-Ordnungen einzwängen, sondern musste sich etwas einfallen lassen, wie das Potenzial der Vielfalt weiterhin sprudeln konnte.“

Standardisierung im Vertrieb macht austausch- und kopierbar

Dies sollte auch so mancher Vertriebsmitarbeiter beherzigen. Wer die Individualität seiner Gesprächspartner ausblendet, wer seine eigene Individualität zugunsten möglicher Verkaufserfolge hintanstellt, erzeugt Gleichförmigkeit, ja Langeweile und oft auch Desinteresse. Darüber hinaus macht er sich austauschbar. Denn andere haben ja auch standardisiert. Eigentlich genügt ein Blick in die Unternehmenslandschaft. Da haben Unzählige Fertigungstechniken standardisiert und damit Kosten reduziert — um plötzlich von ihrer asiatischen Konkurrenz überrollt zu werden, die das Standardisierte noch günstiger produzieren konnten. Der Weg aus der austauschbaren Vertriebsmasche führt über das, was viele Organisationen insgeheim fürchten: Über Individualität und den persönliche Kick. Also das, was weder trainierbar noch wirklich messbar und vergleichbar ist.

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Vor einigen Jahren war ich beim Betriebsleiter eines potenziellen Neukunden. Der Mann stand unter Druck. „Hier rufen jeden Tag so viele Leute an, eigentlich habe ich gar keine Zeit für solche Gespräche“, begrüßte er mich. Während ich ihm unser Portfolio vorstellte, wirkte er abwesend. Als ich ihn darauf ansprach, hörte ich: “Ich frage mich die ganze Zeit, warum ich ausgerechnet Ihnen einen Termin gegeben habe.“

Meine Antwort: „Ich kaufe jedes Jahr das im Internet bestbewertete Buch von Verkaufstrainern, lese es und mache es dann ganz anders.“ Jetzt ging ein Leuchten über sein Gesicht. „Das ist es! Die anderen kommen alle mit der gleichen Leier.“

Übrigens haben sich clevere Einkaufsberechtigte längst auf die geschulten Vertriebsmethoden eingestellt. Sie kennen die gerade populären Ansätze, reagieren mit passgenauen Gegenmaßnahmen und erreichen so Ihre Konditionen- und Rabattziele.

Sympathie nach Sekunden

Zahlreiche Studien belegen, dass Sympathie und damit reales Kaufinteresse innerhalb von wenigen Sekunden entstehen. Also kurz nachdem Sie als Verkäufer die Tür geöffnet haben. Aus Haltung, Bewegung, Stimme, Mimik des Verkäufers und den Erfahrungen und unbewussten Prägungen seines Gegenübers entsteht eine mal mehr, mal weniger förderliche Atmosphäre. Zwei Individuen treffen in ihrer jeweiligen Tagesform in einer spezifischen Situation aufeinander und bilden sich innerhalb eines Augenblicks einen Eindruck voneinander. Und dann versucht der Verkäufer mit standardisierten Verfahren, einen Menschen einzuordnen und entsprechend DISG® & Co. zu bearbeiten. Kann das gutgehen? Natrium und Chlor werden immer zu Kochsalz reagieren. Menschen sind aber keine Elemente, sondern komplizierte Verbindungen.

Jeder Fünfte genügt

Es gibt noch ein weiteres Argument, sich von der standardisierten Kundenbearbeitung zu trennen. Es ist das gute alte Pareto-Prinzip. In diesem Fall besagt es, dass man mit 20 Prozent der Kunden 80 Prozent des Umsatzes liefern. Eine schon alte Erkenntnis.

Warum das so ist? Vielleicht, weil uns eben ein Fünftel unserer möglichen Kunden sympathisch findet, unserer Art der Argumentation folgen kann und will. Man kann aus 20 mit etwas Mühe und cleveren Techniken 25 Prozent machen. Doch wie wirtschaftlich ist das? Lohnt es den Zeitaufwand des Vertrieblers und die damit verbundenen Vertriebskosten? Und wie dauerhaft kann eine Beziehung zu Kunden sein, die man mit Anpassung und Selbstverleugnung gewonnen hat?

Aus persönlicher Erfahrung raus kann ich sagen: Es ist unwirtschaftlich. Wenn ich mich angepasst habe, kam ab und an Auftrag heraus. Oft mit Problemen, weil wir mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen gestartet waren. Höchstens ein Folgeauftrag, dann trennten sich die Wege wieder. Mein Fazit: Ich verkaufe dort am erfolgreichsten und am einfachsten, wo ich so sein darf, wie ich bin. Wo mich mein Gegenüber genauso akzeptiert wie ich bin. Wo er einen Vorteil für sich sieht, dass ich so bin wie ich bin.

Ideen statt Fragen

„Wer fragt, der führt!“ Ja, im Einzelfall zu hundert Prozent richtig. Meist aber der Anfang von schnellen Ende. Weil Kunden oft nach der Devise handeln „Wer fragt, der fliegt!“ Wie begeistert wird ein Entscheider sein, wenn er von jedem Lieferantenvertreter – das können drei am Tag sein – mit zehn, zwanzig Fragen traktiert wird?

Ich erinnere mich an den älteren Betriebsleiter eines Industrieunternehmen, der mich unsanft in meinem Fragen-Wahn unterbrach mit der Aussage: „Wenn Sie jetzt noch eine Frage stellen, fliegen Sie hier raus und kommen nie wieder rein.“ Unvergessen auch der erfolgreiche mittelständische Unternehmer, der mir sagte: „Ich habe kein Zeit für solchen Taktiken. Sagen Sie mir, was Sie mir bieten können. Haben Sie sich keine Gedanken über mein Unternehmen gemacht, bevor Sie zu mir gekommen sind?“

Es geht um Taktgefühl und ein Gespür für die richtige Dosierung. Bei einem möglichen Neukunden hatte ich es mit einem sehr wortkargen Erst-Ansprechpartner zu tun. Ich benötigte von ihm Ansprechpartner aus der Technik. Beim entscheidenden Gespräch begleitete mich zufällig ein Kollege aus der Vertriebssteuerung. Ich bekam die Namen, bedankte mich und sah das Gespräch als beendet an. Mein Kollege aber fragte munter über die Firma, ihre Produkte und über ihre Märkte weiter. Zurück im Auto erklärte mir mein Kollege, was ein Außendienstbesuch unseren gemeinsamen Arbeitgeber kostet und dass man dafür maximal Informationen einholen müsse. Ich habe in diesem Unternehmen nie mehr einen Termin bekommen.

Fragen beantwortet heute größtenteils das Internet. Geben Sie stattdessen lieber Ideen, die den Gesprächspartner weiterbringen. Klar können Sie damit danebenliegen. Aber Sie nerven wenigstens nicht. Eine Idee gibt Ihrem Besuch eine Richtung und reduziert das Fragen. Schon beim ersten Telefonkontakt: „Ich habe im Internet gesehen, dass Sie dies oder jenes tun. Wir haben Produkte, die sich da aus meiner Sicht gut kombinieren lassen. Darüber möchte ich mich mit Ihnen unterhalten. Passt das?“ Eine Frage, dazu eine geschlossene. Das spart dem Gegenüber viel Zeit – also das, was er am wenigsten hat. Dass Sie sich bereits Gedanken gemacht haben, statt Fragen Antworten anbieten, motiviert ihn häufig, in eine Diskussion einzusteigen.

Individualität schlägt Methode: Die Vuca-Welt

Definition: Vuca steht für…

  • V= Volatilität bezieht sich auf die zunehmende Häufigkeit, Geschwindigkeit und das Ausmaß von (meist ungeplanten) Veränderungen
  • U = Unsicherheit bedeutet das generell abnehmende Maß an Vorhersagbarkeit von Ereignissen in unserem privaten und beruflichen Leben
  • C = Komplexität bezieht sich auf die steigende Anzahl von unterschiedlichen Verknüpfungen und Abhängigkeiten, welche viele Themen in unserem Leben undurchschaubar machen
  • A = Ambiguität beschreibt die Mehrdeutigkeit der Faktenlage, die falsche Interpretationen und Entscheidungen wahrscheinlicher macht.

(Quelle)

Im Rückblick auf die „alte“, traditionelle Welt und im Vergleich zur VUCA-Welt, bedeutet dies:

Infografik: Die VUCA-Welt und Definition des damit einhergehenden Paradigmenwechsels
Infografik: Die VUCA-Welt und Definition des damit einhergehenden Paradigmenwechsels

So wie Führung und Produktion auf die VUCA-Welt mit der Abkehr von starren Regeln, Planung und Routinen antworten, sollte sich auch der Vertrieb mit Komplexität auf Komplexität reagieren. Was nichts andres heißt als individuellen Interessenten und Kunden individuelle Vertriebsprofis gegenüberzustellen. Wenn die die Freiheit bekommen, sie selbst zu sein und sich ihre Kunden zu suchen, dann können sie ihre eine Marke werden und sich im Gehirn des möglichen Kunden verankern. Wie das geht, haben die Neurowissenschaftler ganz gut verstanden. Einmal muss ein Produkt oder eine Person das Limbische System im Gehirn überwinden. Und dann muss es gelingen, im Erinnerungsgedächtnis „oben“ zu bleiben.

Die bisher geschulten Strategien der Gesprächsführung schaffen durchaus Schritt eins. Doch die Aufmerksamkeit und das Interesse des Kunden versinken sehr oft sehr schnell im „Großhirn-Sumpf“, dem Tagesgeschäft, dem Zeitdruck und in tausenden anderen Informationen. Eindrücke können nicht mehr aktuell gehalten werden. Kein Zweifel: Standard langweilt das Gehirn. Und was langweilt, lässt es fallen und verschwinden. Umgekehrt hält es alles im Vordergrund, was überrascht, was individuell und anders ist. Individuell und anders bin ich, wenn ich meine Persönlichkeit präsentiere, meine Ideen und Konzepte, statt Standards.

Aber folgt bei der bekannte AIDA-Formel nicht das Interesse der Aufmerksamkeit? Häufig leider nicht, da sie von einem zeitlich nahen Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeit, Interesse, Wunsch und Kaufhandlung ausgeht. Hier gilt es, den Informations- und Wunsch-Zeitraum über längere Phasen am warm zu halten, bis eine Kaufentscheidung fällt. Oder die Kaufprozesse sind nicht stetig. Ein großes Fertigungswerk etwa braucht ab und zu, aber nicht alle paar Wochen neue Klimaanlagen oder Kältetechnik. Man kann dort nicht alle Monate etwas über neue, tolle Klimaanlagen erzählen. Und trotzdem muss man Wege finden, um im Gehirn der Ansprechpartner präsent zu bleiben.

Anker fürs Gehirn

Zu meiner Marke gehören schräge, bedeutsame oder witzige Erlebnisse und Anekdoten aus meinem Berufsleben oder meinen Lieblingsmedien. Die haben meist wenig mit der Branche oder den Kundenanforderungen zu tun. Doch genau diese Geschichten liefern den Punkt, an den man später anknüpfen kann. Derzeit liefert mir die etwas schräge Werbekampagne des Landes Baden-Württemberg (da sitzt mein Arbeitgeber) „TheLänd“ manchen Aufhänger. Beim Maschinenbauer wirkt auch mal der Hinweis, dass in einem Freizeitpark das Leben von Fischen im Wert von 150.000 € von unserer Technik abhängt, weil unsere Anlagen das Aquarium kühlen. Das möchte er dann schon genauer wissen…

Andere frische Gesprächsthemen ergeben sich aus dem persönlichen Netzwerk und aus der Bereitschaft zu ungewöhnlichen Zeiten an gewöhnlichen Orten zu sein. Eines Tages hatte ich im Internet ein Unternehmen gefunden, das mit seiner nachhaltigen Philosophie als Kunde zu uns gepasst hätte. Ich habe über Telefon, E-Mail und alle möglichen Wege vergeblich versucht, einen Termin zu bekommen. Einige Monate erzählte ich im privaten Gespräch einem Coach, den ich über einen Freund kennengelernt hatte, dieses Beispiel für die Schwierigkeit der Kaltakquise. Der Coach lächelte vielsagend. „Ich kenne den Inhaber, ich coache Ihn. Ich stelle Dir einen Kontakt her.“ Hat funktioniert.

Apropos Internet: Die für meinen Arbeitgeber in Umsatz und Ertrag interessantesten Kunden habe ich über die Nutzung von Suchmaschinen gewonnen. Wenn ich Suchbegriffe kombiniere, auch mal Begriffe ausschließe und das stundenlang variiere, stoße ich hin und wieder auf ein Highlight. Also auf Informationen über akute Vorhaben, Entscheidungen oder Herausforderungen einer Firma, auf die ich mich beziehen kann. Über die Zeit für diese scheinbare Spielerei am Bildschirm bin ich gottseidank niemandem Rechenschaft schuldig.

Was das Internet nicht hergibt, erzählen erstaunlich oft und bereitwillig die Mitarbeiter des im Focus stehenden, potentiellen Neukunden. Es lohnt z.B., sich morgens zwischen sieben und halb acht oder während der Mittagspause um das Firmengelände herum aufzuhalten. Spannend, mit wem man da so alles ins Gespräch kommt und welche Informationen man dabei erhält. Die Plauderei ähnelt eher dem Pausengespräch im Theater, dem Smalltalk in der Straßenbahn oder wenn man beim Einkaufen aufeinandertrifft und sich unterhält. Das gleiche gilt für Messebesuche. Messen, auf denen sich potentielle Kunden präsentieren.

An alle Vertriebssteuerer und Führungskräfte

  • Lasst bei Verkäufern totale Individualität zu. Das kann niemand kopieren.
  • Lasst das Individuum Verkäufer seine Kunden suchen und finden. Dort, wo er hinpasst, wird es erfolgreich sein. Weg von Zielkunden, hin zum passenden Kunden.
  • Messt den Vertriebserfolg der Verkäufer am Umsatz und an der Marge für den Arbeitgeber.

An alle Vertriebler/Verkäufer

  • Bleibt in Eurer Persönlichkeit, seid Ihr selbst, schauspielert nicht.
  • Nutzt Eure Zeit, um Freunde zu finden, nicht Zielkunden. Freunde, verstanden als Menschen, die Euch so nehmen wie ihr seid und den Vorteil darin sehen und nutzen. Macht mit ihnen Geschäfte. Das ist die rationalste Art der Vertriebsarbeit. Auch für Euren Arbeitgeber.
  • Sucht ständig neuen Wege zu Kunden. Schöpft die Google®-Suchfunktionen aus. Denkt in Netzwerken. Seid dort, wo die anderen nicht sind. U.a. deshalb auch mal mit anderen Suchmaschinen arbeiten.

Autor:
Ralph Ziegler
Kälte-Technik KWE GmbH und Co. KG